Im Internet machen diejenigen Firmen Milliardenumsätze, die ihre Leistungen und ihren Service kostenlos anbieten: Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Spiele, Browser, Softwarepakete, Übersetzungen, Routenplanung, Videos, Bildbearbeitung, Bücher – alles kostenfrei. Gratisangebote sind in. Kostenlos ist hipp. Selbst manches Schmuddelmilieu lockt mit kostenlosen Angeboten. Die Giganten der Gratiskultur verdienen ihr Geld durch die Hintertür – meist mit Werbung oder mit Datenverkauf. Auf jeden Fall nicht mit ihrem eigentlichen Serviceangebot, obwohl das oft unbezahlbar ist. Entweder werden wir mit Werbung unnachgiebig überzogen oder unsere Daten höchstbietend verhökert, ohne daß wir von den Deals mit unseren Informationen etwas groß mitbekommen. Ich staune immer, welche Umsätze mit schnöder Werbung und mit plumpen Datensätzen eingefahren werden können. Inzwischen bieten etwa Webseiten, die unglücklich Verliebte oder Trennungsschmerz-Geplagte beraten, ihre Daten Partnerbörsen an. Sämtliche Kostenlos-Angebote im Internet locken und verführen mit einem unschlagbaren Preisvergleich: billiger als gratis geht nicht. Ich suche eigentlich nur noch nach einem kostenlosen Pizzaservice im Netz – gerne mit bedruckter Werbe-Pappschachtel oder originellen Marketingsprüchen des Pizzaboten. Notfalls geht auch ein Verkauf unserer Kanzleiadresse.
Vorbilder
Jeder, der im Netz kometenhaft aufsteigen möchte, kommt nicht um die Frage umhin „What would Google do?“. Dann nur noch ein copy & paste, also die Gedanken quasi für seine Branche kopieren und fertig ist das Patentrezept. So jedenfalls empfiehlt es Jeff Jarvis in seinem gleichnamigen Bestseller. Gratis gilt Geschäftsideen im Internet. „Free – Kostenlos: Geschäftsmodelle für die Herausforderungen des Internets“ beschreibt auch Chris Anderson. Und alle, die sich mit dem Gratis-Gedanken herumschlagen, kommen zum Ergebnis: „Kostenloser Zugang ist einfach unschlagbar“. Das hat längst nichts mehr mit billigem Ramsch zu tun, sondern anspruchsvoller Denke. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.
So mancher juristischer Kollege hat die Zeichen der Zeit erkannt und nimmt sich nun die Gratiskultur zum Vorbild. Es gilt, zu Google, Facebook & Co aufzuschließen. Ich bezweifele, daß die Umsatzzahlen von Google & Co. auf meinen Kontoauszug passen würden. Weniger Zweifel hatte da wohl ein Bochumer Anwaltskollege. Schlau gedacht, schnell nachgemacht. Flugs stieg er in die kostenlose Rechtsberatung ein und hat es offenbar geschafft: Der Anwaltskollege avancierte im Nu, quasi über Nacht, zum Marktführer für kostenlose Rechtsberatung – so jedenfalls die Darstellung auf seiner Webseite. Stolz prangt dort die Begrüßung: „Herzlich willkommen beim Marktführer ‚Kostenlose Anwaltsberatung für Alle’. Dem bundesweit größten Portal für Gratis-Kanzleibetreuung für Jedermann.“ Chapeau! Wir als Anwaltsboutique laufen da wohl unter ferner liefen. Unsere Position malt sich im Vergleich hierzu geradezu erbärmlich aus. Wir sind doch nur eine kleine Kanzlei, die zusammen mit Steuerberatern Unternehmensmandanten aus der Krise hilft und zukunftsfähiges asset protection mit family office bietet. Anders die Töne aus Bochum: Um die Marktbeherrschung auszubauen, soll ein Franchisesystem die bundesweite Flächenabdeckung sichern. „Nach dem Vorbild US amerikanischer Rechtsberatungs-Filialketten wie Mayer und Jacobi möchten wir mit unserer Kostenlos-Rechtsberatung so schnell wie möglich deutschlandweit expandieren“, wird auf der Webseite verkündet. Wie das so schnell gehen soll, wird sich mancher fragen. Die Antwort ist schlicht: Na, er habe keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Alle konkurrierenden Kollegen arbeiteten für Geld. Wo ist nun die Googlesche Hintertür? Ein paar Zweifel mögen ob der hervorgestellten Position aufkeimen: Ob der Marktführerschaft auch entsprechend hohe Einnahmen gegenüberstehen? Wir schauen mal etwas genauer hin: Die Webseite ist werbefrei. Datenverkauf ist qua Gesetz tabu. Wo also fließen die Einnahmen?
Wie mit kostenloser Arbeit Geld verdienen?
Nun, der Clou ist subtiler: Er selbst arbeitet nicht, sondern bietet über eine Plattform anderen Juristen die Möglichkeit, ihre Meinung dort zu einem bestimmten Fall, zu einer Anfrage kundzutun. Dank der so gut verbreiteten Eigenwerbung platziert er dann seinen durchaus mehr als konkurrenzfähigen 36-Euro-Stundensatz. Ich kenne durchaus Handwerksmeister, die würden bei solch einem Stundensatz nicht mal die Hände aus den Taschen nehmen. Ja, die Konkurrenz unter bundesweit 160.000 Anwälten wird spürbar. Früher gab schon einmal eine Anwaltsbürokette namens „Juraxx“ mit knallgrünen Farben und Anspruch auf Kostenführerschaft. Sie hat längst geschlossen, allerdings nicht wegen Reichtums, sondern wegen Insolvenz. Der marketingstarke Gratis-Kollege wird allerdings wohl spätestens an den renitenten Kollegen scheitern, die er ja für seine bundesweite Kostenlos-Aktion braucht. Uns ist zumindest kein Anwaltskollege bekannt, der bei seinem ohnehin schon heftigen Tagespensum noch kostenlos Fälle lösen möchte. Und einen nicht so angenehmen Beigeschmack hat das Kostenlos-Projekt: Der Kollege will seine Tätigkeit eigentlich nach Stunden abrechnen. Um einem ruinösen Preisverfall Einhalt zu gebieten, ist nun die zuständige Anwaltskammer auf den Plan getreten und hat eine Abmahnung gegen den Discounter erlassen. Steht doch dessen Vorgehen in diametralem Gegensatz zu den Bemühungen, die Anwaltsgebühren angehoben zu bekommen. Erstaunlicherweise hatte außer der Kammer keine nennenswerte Zahl von Kollegen in diesem zaghaften Versuch des Selbstkasteiens eine ernst zu nehmende Konkurrenz, gar eine Bedrohung, gesehen. Der Bochumer Gehversuch wurde belächelt, manchmal verhöhnt, zumindest sehr oft schlicht ignoriert.
Konkurrenzkampf ohne Anwaltstitel
Waren da die anderen Kollegen, die ihre Anwaltszulassung zurückgegeben haben, pfiffiger? Ein Berliner Jurist etwa – wahrscheinlich dem gängelnden Berufsrecht überdrüssig und nun nicht mehr Anwalt – berät ebenfalls gratis. Kein Anwalt, keine Kammer. Dafür Spendenaufrufe auf seiner Webseite. Beim näheren Hinschauen fällt allerdings auf, daß seit über einem halben Jahr kaum eine nennenswerte Tätigkeit entfaltet wird. Haben die Kunden die kostenfreie Rechtsauskunft gar zu wörtlich genommen? Es hat den Anschein, als reguliere sich hier der Markt gerade selbst. Da hilft selbst die Angabe einer kostenpflichtigen Telefonnummer nicht wirklich weiter. Die kostenlose Rechtsauskunft in Berlin ist nur unter einer 0900-Telefonnummer zu erreichen. Google hat hingegen eine völlig normale Festnetznummer.
Bei all diesen Modellen wird verkannt, dass wir jetzt schon einen bunten Blumenstrauß an kostenlosen Rechtsberatungen nicht nur von Gesetzes wegen eingeräumt bekommen. Die Stichworte heißen bekanntermaßen Beratungshilfe, Prozesskostenhilfe, Pflichtverteidigung. Sie sind sogar berufsrechtliche Pflicht für jeden einzelnen Anwalt, sei es eine Boutique, sei es eine law firm. Jeden Tag eine gute Tat! Haben Sie heute schon „kostenlos“ beraten? Ach, pro bono nennen Sie es? Sie unterstützen ehrenamtlich gemeinnützige Organisationen, NGOs oder andere Vereinigungen, die sich für eine gute Sache einsetzen? Fällt das Ihrer Auffassung nach unter Gratis-Rechtsberatung oder vielleicht doch unter Marketing-Maßnahme? Vielleicht ist der ganze Kostenlos-Hype nur eine Modewelle im Marketing, die mal stärker mal schwächer schwappt. Wollte jemand wirklich allein von kostenloser Beratung leben, wäre ihm – zum Leidwesen aller – ein kurzes Leben beschert. Kostenlos ist zwar im Preis unschlagbar, aber ohne anderweitige Einkünfte nicht existenzfähig machbar. Das ist der bekannte Pferdefuß. Warum sollte man also nicht das gutherzige und ehrrührige Verhalten von Kollegen nicht gutheißen? Warum müssen Kollegen die Gratiskultur im Rechtssektor geißeln? Wäre nicht der Weg zu einem offensiveren Marketingstil für Anwälte zu ebnen? Wäre es nicht längst an der Zeit, mit Lobbyarbeit eine Überarbeitung der berufsrechtlichen Werbevorschriften anzustoßen? Müssen wir uns denn wirklich über Kollegen ereifern, die nahe dem finanziellen Abgrund Arbeit anbieten, für die manch anderer nicht einmal zum Füllfederhalter griff? Unser anwaltliches Berufsrecht hält leider nicht viel von eigenständiger Marktregulierung. Den Bekanntheitsgrad vom Noname zum Marktführer im Gratisrecht zu schaffen, darf nicht mit entsprechenden Umsatzzahlen gleichgesetzt werden. Es gilt zu beobachten, wie dünn die finanzielle Luft oben beim Marktführer ist.
Lösung
Letztlich entpuppt sich der ganze Wirbel als unbedarfter Marketingversuch eines Kollegen – nicht weniger und nicht mehr. Eigentlich bewegen wir uns im Wettbewerbsrecht und weniger im Berufsrecht. Glücklicherweise hat das auch die Kammer so gesehen und vorwiegend Wettbewerbsargumente ins Feld geführt, allerdings mit noch ausbaufähiger Begründung. Wenn wir schon den Wettbewerb in der Gratisecke – um nicht zu sagen: im Wühltisch – mal beleuchten, stellt sich die für jeden Anlaytiker die Frage, um welche Kunden mit dem Slogan „kostenlos“ gebuhlt wird. Werden es die Konzernlenker sein? Oder vielleicht Geschäftsführer von klein- und mittelständischen Unternehmen sein? Wohl kaum. Es wird eher das Kundenklientel sein, dass früher auch bei Woolworth zu finden war. Oder die mal schnell bei Juraxx reingeschneit waren. Kurzum: Schnäppchenjäger werden dadurch angelockt, aber sicherlich keine lukrativen Mandate. Da bedarf es schon einer anderen Struktur.
All die wirtschaftliche Not wegen klammer Mandanten und all der unnötige Ärger mit der Berufsaufsicht hätten bei der Gratis-Kampagne in der Rechtsberatung gar nicht sein müssen: Viele andere Kollegen vor den Bochumer und Berliner Sparfüchsen haben vorgemacht, wie es geht. Einer Vielzahl von etablierten Interessenverbänden stehen Anwälte vor. Sie beraten ihre Mitglieder – völlig kostenlos. Ein bewährtes Patentrezept – und das seit Jahrzehnten, schon bevor Google und Facebook überhaupt die Welt der Bits und Bytes erblickten. Das alles völlig unbehelligt und ohne in ein kümmerliches Nischendasein abrutschen und mit kargen Stundensätzen werben zu müssen. Was hebt ein bekannter deutscher Automobilclub noch gleich im Internet hervor? „Nutzen Sie die Fachkompetenz Ihrer (…) rund 650 (…) Vertragsanwälte. Bei Fragen rund um Auto, Straßenverkehr und Reise helfen wir mit einer kostenfreien Rechtsberatung.“ Voila. So geht’s. Freie Wohlfahrtspflege, Mieter- oder Vermieterbünde, Rechtshilfevereine, Automobilclubs, Interessenzusammenschlüsse und andere Clubs nutzen dieselben Strukturen. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Und übrigens: Bei diesen Beispielen würde sich der Handwerksmeister durchaus die Augen reiben, sähe er die Umsätze der kostenlosen Rechtsberatungen solcher Interessenverbände. Gratis lohnt sich eben doch. Quod erat demonstrandum.
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P. S.: Jeder erfahrene und erfolgreiche Kollege weiß übrigens, dass Gerichtsverfahren für die obsiegende Partei dank Kostenfestsetzungsbeschlusses stets kostenfrei sind. Beste Qualität ganz und gar gratis.